Anmerkungen zur Geschwisterlichkeit 

Das Thema unserer heutigen Begegnung "Politik und Geschwisterlichkeit. Utopie oder Notwendigkeit?" birgt nicht unerhebliche Gefahren, darunter die, in das Genre einer "Sonntagsrede" zu verfallen, auch wenn heute erst Samstag ist. Ich möchte - so gut es eben geht - das meine dazu beitragen, dieser Versuchung nicht zu erliegen. Die größte Herausforderung aber liegt in der Tatsache, dass der Begriff der "Geschwisterlichkeit" in der Sprache und Erfahrung einer politischen Reflexion und Tradition eigentlichimmer ein Fremd-Körper geblieben ist. Ich möchte Ihnen also Anteil geben an meiner Suchbewegung, meiner Annäherung an diesen Begriff, der von verschiedenen Autoren eher indirekt angezielt wird - als Reflexion über die Wirklichkeit des Anderen, der unsere Gesellschaft und Auffassung von Politik immer mehr zu prägen beginnt.

Seit Jean-Jacques Rousseau hat die Idee der politischen Gemeinschaft einen wesentlichen Horizont politischen Denkens markiert. Ihre Tradition ist dabei von einem grundlegenden Zwiespalt gekennzeichnet: Einerseits enthält sie die Leitbilder eines guten, kollektiven Lebens, andererseits wurde sie immer wieder zu einem verklärenden Basismotiv totalitärer Ideologien. Daher ist zu fragen: Welchen Einsatz repräsentiert in der Reflexion des Politischen das Gemeinschaftliche (- bzw. das Motiv, der Begriff, der Erfahrungshorizont einer "Geschwisterlichkeit" - ) ? - Wie kann man den unüberwindlich scheinenden Gegensatz zwischen ursprünglicher Gemeinschaft einerseits und organisierter Gesellschaft erneut fruchtbar machen? - Wie lassen sich - ganz im Sinne unseres Themas - die utopischen Angelpunkte des Gemeinschaftsbegriffs im Hinblick auf die Notwendigkeiten politisch-sozialer Regelwerke zur Geltung bringen ?

Vielleicht geht es ja zunächst - frei nach Ulrich Beck, dem Münchner Soziologen und Theoretiker der sogenannten "Risikogesellschaft" - um eine (erneute) Erfindung des Politischen. Eine solche "Erfindung" operiert allerdings nicht im luftleeren Raum. Als neues "Mantra" einer politischen Vernunft, die das Projekt einer Moderne kennzeichnet und ihre verschiedenen Lebensbereiche durchwirkt, steht sie - bei Beck - im Zeichen eines kleinen-großen Wortes: des Wortes UND, das hier zur grundlegenden Kategorie eines modernen Politikverständnisses aufsteigt, zur Neubestimmung einer gesellschaftlichen Dynamik aus ihren Zwischenräumen: "1989 war das Jahr des und", erläutert Beck. "Der Tanz auf der Berliner Mauer symbolisiert die friedliche Revolution des und, die aus dem Nichts kam und bis heute unerklärt, unerklärlich ist. Wenn nun wieder in Europa die Grenzen nach ihrem Wegfallen neu errichtet, beschworen und beflaggt werden, so bleibt dies - Reaktion: eine Reaktion auf die schiere Unerträglichkeit des und. - Viele ängstigt das Globale, Diffuse, die Konturlosigkeit des und. ..... Aber die Welt des entweder-oder, in der wir denken, handeln und leben, wird falsch. So oder so beginnen Auseinandersetzungen, Experimente jenseits von entweder-oder: Es beginnt die Erfindung des Politischen."

Auch für den Bremer Politikwissenschaftler Paul Nolte steht die Notwendigkeit einer umfassenden Erneuerung oder Reform der Politik außer Frage. Er plädiert für eine "Rückkehr der Bürgergesellschaft" , die, so Nolte, "mehr Freiheit und mehr Gemeinschaft zugleich" ermöglicht, also die alte Frontstellung zwischen "Liberalismus" und "Kommunitarismus" überwindet und auf allen Ebenen die Vision einer "neuen Mitte" gewinnt; eine Zielvorstellung, die der Banalisierung, dem "Verdunsten" eben dieser Mitte entgegenwirkt: Denn wo alles zur Mitte wird, erstarken letztlich doch nur wieder die Ränder - und an den Rändern eine Nischen- oder Rückzugs-Kultur, in denen eine diffuse, dumpfe "Politikverdrossenheit" nistet oder aber die Anfälligkeit für populistische Vereinfachungen erschreckend zunimmt. Diese neu ein- oder scharfzustellende Vision der Mitte zeigt sich fürNolte in dem Projekt einer "Bürger"- als "Verantwortungs-Gesellschaft", und bereits dieser der Ethik entlehnte Begriff macht deutlich, was damit gemeint ist: "Wie kaum ein zweiter markiert der Begriff der Verantwortung eine Nahtstelle zwischen Individuum und Gesellschaft, ein Scharnier zwischen persönlicher Identität und gemeinschaftlicher Verpflichtung. .... Verantwortung ist immer zugleich Verantwortung für andere."

Gerade im Hinblick auf die Folgeerscheinungen der sogenannten "Globalisierung" sehen sich etwa die europäischen Gesellschaften in das "gleichzeitig-ungleichzeitige Gegen-, Neben- und Miteinander der Weltreligionen versetzt", und angesichts der Herausforderung, die diese Vielfalt darstellt, muss dieser Kontinent seine Stimme und Rolle als die eines Werte- und Glaubenssystems unter anderen erst noch finden. Zu dieser Frage hat sich der bereits erwähnte Ulrich Beck erst vor wenigen Wochen wie folgt geäußert: "Indes sind viele Europäer in einem Kulturessentialismus befangen, der Nation, Religion und Identität als etwas Uner-schütterliches und Unveränderliches begreift. In dieser Situation signalisiert die Frage, wohin Europas Reise gehen soll, keineswegs eine Krise. Im Gegenteil: Der Kontinent ist angekommen in der Realität inner- und zwischengesellschaftlicher Kulturkonflikte." Das unveränderlich geglaubte "Wesen" eines bestimmten gesellschaftlich tradierten Gottes-, Menschen- und Welt-Bildes, das, was Beck hier "Kulturessentialismus" nennt, gewinnt seine Prägung aus dieser Erfahrung einer umfassenden Migration oder globalen Wanderungsbewegung und Mobilität. Die heute erneut offensichtliche Bedeutung religiöser Sinnstiftungen für das Selbstverständnis einer nach-christlichen Moderne - nichts anderes bedeutetdie Rede von der "postsäkularen Konstellation" - und eine viel beschworene "Rückkehr der Werte" hängen zutiefst mit dieser "Ankunft des Anderen", des Nicht-Identischen, des Fremden zusammen, jener Erfahrung eines eigentümlichen "Gastes", der kommt und - bleibt.

Vielleicht bedarf es also einer Politik, die sich auf die Hermeneutik, das Verstehen des je Anderen versteht und somit neu legitimiert, die also über eine Identität verfügt, die sich in der Öffnung auf das von ihr Verschiedene in neuer Tiefe erfährt und sammelt, kurz: die sich im anderen erkennt und - einer kühnen Formulierung der französischen Autorin Simone Weil folgend - in jene kulturelle, und religiöse "Distanz", den Abstand zum jeweils Anderen, Fremden einwilligt, der überhaupt erst jede authentische Nähe und Gemeinschaft ermöglicht. Offensichtlich bemisst sich authentische "Geschwisterlichkeit" - nicht zuletzt als "politische Kategorie" - an eben jener Erfahrung umfassender Verschiedenheit, die sie aus sich heraus entlässt, an der sich ihr gemeinschaftsbildender Anspruch überhaupt erst ablesen und bewerten lässt. Vor einigen Wochen ist mir das jüngste Buch von Ugo Morelli , seines Zeichens Professor an der norditalienischen Trento School of Management, zugegangen: eine politische, philosophische und gesellschaftswissenschaftliche Studie zu dem ungeheuer fruchtbaren (und - so Morelli - bislang ungenutzten) Potential einer "Konfliktkultur", die der Autor als "codice della contemporaneità", also als Lektüreschlüssel für eine Gegenwart begreift; eine Gegenwart, die von ihren Ursprüngen und Grundlagen her immer schon die Erfahrung des Verschiedenseins in sich trägt. So gesehen bedeutet "Geschwisterlichkeit" eben immer auch und wesentlich "Streitkultur".

Für die Rede, den möglichen Leitbegriff von der "Geschwisterlichkeit", ist - aus einer geschichtlichen Perspektive - diese Einsicht in die vielfältigen Bruchlinien und Verlusterfahrungen unerlässlich. Gerade im Hinblick auf die Pervertierungen einer wissenschaftlich-technischen Vernunft, dem Zerbrechen der Vater- und Mutter-Bilder "nach Auschwitz", erklären sich weitreichende Befürchtungen im Hinblick auf die Verwendung universaler Kategorien. Der Philosoph Rolf Zimmermann hat erst jüngst die Folge und Tragweite dieser desaströsen Erfahrung als "Riss im moralischen Bild des Menschen" beschrieben, der ein neues Selbstverständnis von Moral und Politik erforderlich mache. Und so verlangt der skeptische Vorbehalt wie ihn der spanische Autor und KZ-Überlebende Jorge Semprun formuliert, an dieser Stelle allergrößte Beachtung: Man darf nicht wieder einen Neuen Menschen erschaffen, konstruieren wollen, formuliert er zum Abschluß eines Interviews, das er im Januar 2005 - aus Anlaß des 50. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz - gegeben hat , denn dieser vermeintlich Neue Mensch ist immer ein Monster, das die blutgetränkte Kehrseite jeder Utopie verkörpert.

Dieser entideologisierten, gewissermaßen "gebrochenen" Sicht auf den Menschen ist auch Jürgen Habermas verpflichtet, wenn er für den Rückgriff auf die großen Erzähl- und Überlieferungszusam-menhänge der "monotheistischen Religionen" plädiert, denen sich der Begriff und die Erfahrung einer "Geschwisterlichkeit" als Solidargemeinschaft verdanken. Gegen den von Jean-Francois Lyotard als Kennzeichen einer sogenannten condition postmoderne verstandenen "Niedergang der großen Rahmenerzählungen", aus dem der "Tod" (Michel Foucault) oder ein simpler "Stillstand" (Francis Fukuyama) der Geschichte resultierten, setzt Habermas, der sich selbst als "religiös unmusikalisch" bezeichnet, auf die Weitergabe, Tradierung heils-geschichtlicher Leitmotive, ihre - wie er es nennt - "Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben". Und weiter: "Im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang vermeiden, kann etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Experten allein nicht wiedergewonnen werden kann - ich meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusam-menhänge." Es geht - so Habermas in einer für unser Thema entscheidenden und überraschenden Wendung - um eine "rettende Übersetzung", die Wiedergewinnung eines für das Projekt der "Geschwisterlichkeit" unverzichtbaren Ursprungs, die Annahme einer schöpferischen (auch mit Attributen des "Väterlich"-"Mütterlichen" zu umschreibenden) Wirklichkeit: Es geht also - in den Worten des deutschen Sozialphilosophen - um die "Übersetzung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die unbedingt zu respektierende Würde aller Menschen".

Schließen möchte ich mit einer - wie mir scheint - originellen Variation zum Thema "Geschwisterlichkeit"; einem Plädoyer der rumänischen, in Frankreich lebenden Psychoanalytikerin und philosophischen Autorin Julia Kristeva. Sie glaubt an die spannungsvolle Vereinbarkeit der drei Großen Begriffe von "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" , allerdings unter der Voraussetzung, dass nunmehr ein vierter Terminus hinzutritt, den sie vulnérabilité, Verletzbarkeit nennt,: als Eingeständnis und Recht auf eine Schwäche des Einzelnen, des Eigenen, an der sich wohl erst die - vielleicht auch rettende - Stärke des Anderen, einer Gemeinschaft erweisen kann, auch und gerade weil sie sich in ihm, in dieser seiner Schwäche ganz neu erkennt. In einem offenen Brief an den französischen Staatspräsidenten zur Lage der geistig und körperlich behinderten Bürger ("les citoyens en situation de handicap") stellt Kristeva sich - und einer ganzen Öffentlichkeit - im Hinblick auf die geplante erste nationale Versammlung der citoyens handicapés - die Frage: Und wie wäre es, wenn uns die Tatsache der Behinderung, des Behindert-Seins dazu veranlasste, das soziale Band, das Wesen unserer Gemeinschaft neu zu erfinden? - Et si le handicap nous aidait à ré-inventer le lien social? - Hier nun zeigt sich: Die Plausibilität jeden Nachdenkens über Begriff und Erfahrung einer "Geschwisterlichkeit", zumal wenn sie sich anschickt, als "Kategorie" oder "Leitbild" eines politischen Diskurses wirksam zu werden, hängt wesentlich von der Fähigkeit ab, in ihrem Anspruch auf Einheit immer auch Maß zu nehmen an der in ihr geborgenen Pluralität und vielfältigen Erfahrung des Defizitären, eines gewissermaßen physischen wie metaphysischen Mangels. - "Geschwisterlich" wäre also ganz allgemein eine Gemeinschaft zu nennen, die aus dem Bewusstsein einer Stärke lebt; einer Stärke, die sich wiederum aus dem Eingeständnis ihrer Schwäche für den anderen speist; eine Gemeinschaft, die insofern vielleicht "geschwisterlich" lebt, als sie das gemeinsame, identitätsstiftende Leitbild immer wieder aus der Erfahrung einer in ihr geborgenen, zuweilen spannungsreichen Gleich- oder Mehrursprünglichkeit gewinnt, der unentwegt schöpferischen und für eine Demokratie unverzichtbaren Einbeziehung der Anderen.

[Foto Maria Kny, Solingen]

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Einführung "Anmerkung zur "Geschwisterlichkeit" von Herbert Lauenroth zum Herunterladen
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