Grußwort von Dr. Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen
In seinem knappen, in hohem Alter formulierten philosophischen Entwurf „Zum
ewigen Frieden“ hat Immanuel Kant sich zuversichtlich gezeigt, dass das „Problem
der Staatserrichtung … selbst für ein Volk von Teufeln“ lösbar sei. Er machte lediglich
eine Einschränkung: Sie müssten Verstand haben.
Nun schätze ich Kant sehr. Ich bin aber überzeugt: In dieser Verkürzung stimmt das nicht. Es bedarf mehr als Freiheit und Gleichheit und eines bisschen Verstands. Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat einen Gedanken populär gemacht, den sicherlich jeder von Ihnen unterschreiben würde: Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht erzeugen kann. Und damit hat er Recht. Menschen sind keine Maschinen, die funktionieren, solange die Mechanik richtig eingestellt ist. Gesellschaft ist kein Motor, der nur richtig geschmiert werden muss, um rund zu laufen. Und zusammen leben ist etwas anderes als Zusammenleben, das nur richtig organisiert werden muss, um konfliktfrei vonstatten zu gehen.Was aber ist es, was aus einem Apparat etwas Wesenhaftes werden lässt? Was ist es, was aus einem funktionierenden Gebilde von Gesetzen, Strukturen und Verfahren eine lebenswerte Gemeinschaft werden lässt? Mag die Antwort auch schwierig sein, eines ist gewiss: Dieses „etwas“ ist notwendig. Mit Ihrer Tagung versuchen Sie nun, eine mögliche Antwort auf die Frage nach diesem „etwas“ zu geben. Sie machen das in der der Fokolar-Bewegung eigenen, charmanten und zurückhaltenden Art, indem Sie eine weitere Frage aufwerfen: Gehören Politik und Geschwisterlichkeit notwendig zueinander? Oder ist das eine Utopie? Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, hat einmal mit Blick auf die Französische Revolution ganz richtig festgestellt: "Von den drei Idealen ist auf internationaler Ebene eines noch nicht verwirklicht: die Brüderlichkeit - heute würden wir sagen: die Geschwisterlichkeit.“ Ich möchte ergänzen: Und auch auf nationaler Ebene gibt es noch einigen Handlungsbedarf. Sie alle kennen das: Dort, wo wir die Dinge gemeinsam anpacken, wo wir eine gemeinsame Sicht auf die Wirklichkeit entwickeln, wo wir uns gemeinsam den Herausforderungen stellen - dort gelingt unser Tun. Dort, wo wir einander mit Achtung und Wertschätzung begegnen, wo wir den Anderen in seinem Anderssein anerkennen und wo wir den Menschen in seiner Würde annehmen - da wird Gesellschaft zu Gemeinschaft und da bauen wir gemeinsam an einer lebenswerten Welt. Um das zu ermöglichen, kann Politik den Rahmen schaffen. Wollen wir aber wahre Geschwisterlichkeit - dann muss jeder Einzelne an sich arbeiten. Wenn wir die Massenarbeitslosigkeit überwinden wollen, dann müssen wir über gegenseitige Vorwürfe und Schuldzuweisungen hinaus kommen. Wenn wir ein gerechtes Schulsystem wollen, in dem nicht der Geldbeutel über den Erfolg eines Kindes entscheidet, dann müssen wir die ideologischen Grabenkämpfe hinter uns lassen. Wenn wir die Staatsverschuldung im Interesse unserer Kinder und Enkelkinder senken wollen, dann müssen wir aufhören mit selbstmitleidiger Nabelschau und das ganze Gemeinwesen in den Blick nehmen. Und wenn wir Erfolg haben wollen, dann können wir das nur gemeinsam. Ich bin Ihnen deshalb sehr dankbar, dass Sie den Begriff „Geschwisterlichkeit“ in den Mittelpunkt Ihrer Überlegungen gestellt haben - weil er uns zurückführt zu unseren christlich-abendländischen Wurzeln. Wer nämlich von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ausgeht, von seiner Personalität und Würde, wer in seinem Gegenüber einen Bruder oder eine Schwester sieht, der wird ein ungleich höheres Bedürfnis nach Verständigung haben. Und wer Solidarität als etwas betrachtet, das zur Freiheit dazugehört und ihr nicht entgegensteht, der verfügt auch in der Politik über einen inneren Kompass. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Tagung - und ich hoffe, dass von ihr Ideen und Impulse ausgehen, die möglichst viele erkennen lassen: Geschwisterlichkeit und Solidarität sind keine Utopie, sondern Conditio sine qua non eines freiheitlichen Gemeinwesens! |
<< zurück | ![]() | 23 KB |