Vortrag in Kiew/Ukraine
(Vorlage für das Referat)
Einstieg:
Vorstellen: Name, verh., Kinder, Wohnort, in der christlichen Jugendarbeit groß geworden, früher Lehrer an einer beruflichen Schule, seit 18 Jahren BGM (4100 Einw.) Vorsitzender einer Verwaltungsgemeinschaft (13500 Einw.), Vorsitzender in Schulverband, Sprecher einer Kommunalen Zusammenarbeit, Mitglied im Kreistag.
Vielleicht ein Wort zu meiner Wahl 1996: Wir waren nicht mehr als eine handvoll Personen, Freunde. Ich war bereits im Gemeinderat, es gab eine große Mehrheit einer etablierten Partei, wir Neulinge glaubten einfach an das Große. Und als ich gegen den amtierenden Bürgermeister und einen weiteren Kandidaten gewählt wurde, war einer meiner ersten Gedanken: "Gib Deiner Gemeinde eine Seele!"
Wie ich dies in der deutschen Kommunalpolitik versuche, in welcher Grundhaltung ich mein Amt begreife, dies will ich in einem ersten Abschnitt erläutern. In einem zweiten Abschnitt zeige ich stichwortartig die derzeitigen Trends in der deutschen Kommunalpolitik in der Frage der Bürgerbeteiligung auf. In einem dritten Teil, füge ich Erfahrungen mit der Beteiligung von Bürgern an Gemeindeprojekten in meiner Gemeinde an.
Teil 1:
Politik zu gestalten, ob es darum geht ein Rathaus, eine Straße, einen Windpark, eine Schule, ein Jugendzentrum zu bauen ist für mich eine Frage des menschlichen Umgangs miteinander. Bereits der Weg hin zu den notwendigen Entscheidungen ist ein erstes Ziel! Was nutzt das schönste und teuerste Straßenpflaster, wenn es keine Akzeptanz in der Bevölkerung findet. Lieber die etwas unvollständigere, weniger perfekte Lösung eines Problems, als Streit und Zank, Das ist eine erste Devise!
Darüber hinaus nenne ihnen in Stichworten einige Prinzipien, die ihnen vielleicht naiv erscheinen mögen, die mir aber, neben dem notwendigen Fachwissen, der unerlässlichen Führungsstärke, etc. aber sehr wichtig erscheinen, weil sie dafür verantwortlich sind, dass Politik gelingt:
- ich muss zuhören können (große Ohren haben!)
- ich muss verlieren können (die eigene Idee,...)
- ich muss wissen, dass der andere für mich wichtig ist
- ich muss wissen, dass gute Entscheidungen nur gelingen, wenn die Atmosphäre im
politischen Raum gut ist
- ich muss neu beginnen können
Damit bin ich der Auffassung, dass Politik nur gelingt, wenn sie von gelungenen menschlichen Beziehungen getragen ist. D.h. dass auch der politische Gegenüber, sei es der Bürger, der politische Gegner, die Opposition, der angenhörige einer anderen Fraktion nicht nur Störer, nicht nur Querulant, nicht nur Verhinderer ist, sondern immer auch meinen Respekt, meine Achtung und Wertschätzung verdient. Das gilt auch für mich in der Kommunalpolitik. Ich sage ihnen das einfach deshalb, damit sice mich einordnen können.
span class="underline">Teil 2:
Bürgerbeteiligung - Chancen und Grenzen - Deutschland ist ein Vereinsland. Auch in meiner Gemeinde gibt es zahlreiche Vereine (ca. 30!). Sportvereine, Gesangvereine, Trachtenvereine, Wandervereine, Vereine für Obst - und Gartenbau,... Sie haben eine große Tradition, sind teilweise über 100 Jahre alt. Sie dienen zugegeben auch der Geselligkeit, der Pflege von Kontakten. Aber sie hatten auch einen großen Einfluss auf kommunalpolitische Entscheidungen und sind ein nicht zu verachtendes partizipatives Element in deutschen Kommunen. Auch Parteien und Gewerkschaften seien als traditionelle Betätigungsfelder für die Mitgestaltung politischer Fragen erwähnt. Sie haben aber Vertrauen in der Bevölkerung verloren und sind insbesondere für Jugendliche wenig attraktiv.
Zwischenzeitlich gibt es in Deutschland große Bürgerbeteiligungsprozesse: Stuttgart 21, Fluglärminitiativen, Startbahn in München, Stromtrassen von Nord nach Süddeutschland, Initiativen gegen nächtlichen Fluglärm, u.s.w.
Aber auch in kleineren Gemeinden ist Bürgerbeteiligung ein Thema: so gab z.B. in Bayern in den letzten Jahren ca. 2000 Bürgerentscheide (Umgehungsstraßen, Windräder, Biogasanlagen, ...
Es gibt sogar eine Bewegung: "Mehr Demokratie", welche sich die Partizipation der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen zum Ziel gesetzt hat. Dahinter steckt sicher auch ein großes Misstrauen gegen die etablierte Politik, der man Interessenpolitik vorwirft, die man verdächtigt, Prestigeobjekte durchsetzen zu wollen.
An sich ist die representative Demokratie ist in Deutschland sehr gefestigt, rechtlich verankert und auch bewährt: - alle 6 Jahre Wahl des Bürgermeisters und Stadtrates
- Bauleitpläne werden öffentlich ausgelegt
- In Bayern zusätzlich: Bürgerentscheid möglich
Frage: Ist das genug? Ist das lebendige Politik? Sind die Bürger zufrieden? Bürgermeister und Verwaltung sind gut beraten, wenn sie von sich aus die Bürgerbeteiligung einfordern: Die geschieht i.W. auf freiwilliger Basis in Form von - Leitbildentwicklungen
- Lenkungsgruppen, Arbeitskreise
- Zukunftswerkstätten
- Dorferneuerungsprozesse
- Bürgerinitiativen (Initiative von Bürgern)
Sie unterliegen den Prizipien:
Betroffenheit
Individualität, Spontanität
Partizipation
Transparenz
Zeichen des Gelingens:
- wenn alle Kräfte einbezogen sind (Politik, Verwaltung, Vereine, Gewerbe...)
- ein "Wir Gefühl" entsteht
- eine höhere Akzeptanz
- eine höhere "Identität", eine bessere Grundstimmung entsteht
- ein "win-win" Effekt entsteht
Spielregeln hierfür:
Für Bürger:
- keine Denkverbote
- letzte Entscheidung beim Stadtrat
- juristische Rahmenbedingungen sind einzuhalten
- kein Wunschkonzert
Für Stadtrat/Gemeinderat:
- Bürger ernst nehmen
Für Verwaltung:
- Bürger sind keine Gewaltunterworfenen mehr sondern aktive Partner
Probleme:
- Investoren benötigen Investitionssicherheit
- es gibt immer "Betroffene", auch bei Alternativlösungen(St. Floriansprinzip)
- viele Sachverhalte sind komplex und erfordern hohe Sachkenntnis, die nicht jeder
Bürger haben kann
- Berichterstattung in den Medien (weniger sach- sondern eher auflagenorientiert)
Teil 3. Erfahrungen aus meiner Gemeinde konkret
Gemeinschaft wächst durch Beteiligung! Unsere Gemeinde ist mit finanziellen Mitteln nicht allzu üppig ausgestattete. Ja, im Vergleich zu unseren Nachbargemeinden waren wir arm. Aber wir trauten uns etwas!
Vor einigen Jahren haben wir in unserer Gemeinde eine Zukunftswerkstatt durchgeführt. Frage: Wie soll unsere Marktgemeinde in 15 Jahren aussehen? Viele Interessengruppen, Vereine, Geschäftsleute, Neubürger und Alteingesessene, alle politische Gruppierungen arbeiten mit. Die Mitarbeit aller ist gewollt und wird eingefordert! So ist ein Leitbild entstanden. "Markt Schöllkrippen - Leben mit allen Sinnen." Es war nicht neu, das gab es anderenorts auch. In diesem Leitbild steht im ersten Leitsatz: Wir wollen eine weltoffene und lebendige Gemeinde sein mit aktiven und tatkräftigen Bürgerinnen und Bürgern. Wir wollen den Dialog zwischen Alt und Jung, zwischen arm und reich, zwischen Neubürgen und alteingesessenen Bürgern, zwischen den Kulturen und Religionen. Wir wollen nicht Konsumenten, sondern mitverantwortlich sein für das was in unserem Dorf geschieht, und was aus ihm werden soll. Dieser Prozess läuft seit einigen Jahren.
Einige wenige Folgen möchte ich exemplarisch aufzeigen:
In einem Ortsteil beginnen die Menschen ihr Feuerwehr- und Dorfgemeinschaftshaus alleine zu bauen. Grundlage ist ein Vertrag mit der Gemeinde, in dem ihnen ein finanzielles Budget überlassen wird, die dürfen selbst entscheiden, welche Fenster, wie groß der Versammlungsraum sein darf. Sie schaffen es, halten das Budget ein und bringen dabei mehreren tausend Stunden Eigenleistung ein und, ws ganz wichtig ist, fühlen sich heute für das Gebäude verantwortlich.
Es entstand die Idee, ein Naturerlebnisbad zu bauen. Das alte Freibad war kaputt, Geld hatte die Gemeinde keines in der Kasse. Es war ein völlig neues Konzept! Ein ökologisches Bad, ohne Chlor, naturnah? Wir hatten das Konzept auf der Expo in Hannover gesehen. Wir stellen das Projekt der Bevölkerung vor. Noch am Abend der ersten Vorstellung unterzeichnen 70 Personen ihre Beitrittserklärung zu einem Freibadförderverein. Ein Rentner, den ich frage, ob er uns im neuen Bad über einen Bach eine ca. 35 m lange Hängebrücke bauen kann - kostenlos versteht sich macht sich an die Arbeit, bald helfen 4 Rentner, sie arbeiten über Wochen. Bei der Einweihung des Bades lobe ich ihn ein wenig. Ihm kommen vor Rührung die Tränen. Wenn er mich jetzt im Dorf sieht, strahlt er. Das Bad wurde mit einem hoch dotierten Umweltpreis ausgezeichnet. Heute ist das Bad für unsere Gemeinde ein grandioses Alleinstellungsmerkmal. Es kommen viele Besucher. Die laufenden Kosten zum Unterhalt des Bades konnten gesenkt, die Besucherzahl erhöht werden. Der Förderverein hat heute noch immer 400 Mitglieder.
In einem Ortsteil von uns haben wir eine Dorferneuerung durchgeführt. Dorferneuerung ist ein institutionalisiertes Verfahren unter Begleitung eines Amtes für ländliche Entwicklung, bei dem die Bürger selbst die Initiative ergreifen können und Vorschläge an den Gemeinderat herantragen können. Dieser Ortsteil war ziemlich heruntergekommen, die Bevölkerung rückläufig, kein Geschäft mehr, die Straßen kaputt. Weil eine Aufbruchstimmung initiiert werden konnte, sind inzwischen fast alle Straßen saniert und als großes Highlight gibt es heute dort auch wieder einen Dorfladen. Er versorgt nicht nur die Menschen mit Waren, er ist auch ein sozialer Treffpunkt. Die alten Menschen können wieder am Gemeinschaftsleben teilnehmen. Er wird von ehrenamtlichen Kräften betrieben. Das Dorf hat neues Leben, eine neue Mitte bekommen.
Inzwischen betreiben wir auf hohem Niveau eine Bücherei mit ehrenamtlichen Kräften. Die Ideen des Teams sind toll! Ausleihende Kunden bekommen auf Wunsch einen Kaffee, können sich setzen, sich unterhalten. An unseren Markttagen verkauft das Team die lten Bücher zum Kilopreis und bringt so Geld für neue Bücher in die Kasse. Auch das Büchereiteam hat eine finanzielles Budget, das sie selbst verwalten kann.
Für die ambulante Pflege unserer Senioren in der Region sind täglich qualifizierte Schwestern in etwa 10 Fahrzeugen unterwegs. Ja, es gibt eine Seniorentagespflege, in der Senioren tagsüber betreut werden. Träger dieser Einrichtung: Kirchliche Vereine aus den Gemeinden der Region.
In Deutschland spricht man viel von der Energiewende. Einige Menschen in der Gemeinde haben einen Solarverein gegründet. In Form einer GmbH betreiben sie inzwischen mehrere Photovoltaikanlagen. Einen jährlich festen Ertrag (5% des Kapitaleinsatzes) schütten sie unter ihren Anteilseignern aus, mit dem darüber liegenden Gewinn unterstützen sie gemeindliche Projekte.
Diese Beispiele sollen genügen, ich könnte noch mehr nennen. ( Bürger betreiben einen Eine Welt Laden, andere zeichnen sich verantworltich für unsere ausländischen Kontakte nach Togo, oder Kochanowice in Polen, ...)
Mir scheint wichtig: Eine Gemeinde, in der dieses Verantwortungsbewusstsein (Mitdenken für andere!!!!) wächst, bekommt eine neue Identität. Wir sind eine ländliche Gemeinde, oft sagte man zu uns als Schüler, wir seien die, die aus dem Busch kommen. So war das Selbstbewußstein der Bürger unserer Region nicht sehr ausgeprägt. Inzwischen sind wir eine tatsächlich eine etwas verrückte Gemeinde. Nicht alle, aber viele sind auch ein wenig stolz geworden. Viele Gemeinden in Deutschland haben eine zurückgehende Bevölkerungszahl (demographischer Faktor!). Unsere Bevölkerungszahl wächst noch immer!
Auch der Bürgermeister kann auf dieser neuen Identität, der inneren Stärke und dem gewachsenen Vertrauen in seiner Gemeinde aufbauen. Vor einigen Jahren hat uns eine große Firma (mit bis zu 300 Beschäftigten ) verlassen. Das Areal stand 2 Jahre leer, drohte zu verfallen. Nur weil sich in der Gemeinde ein neues Selbstverständnis gebildet hatte, weil Vertrauen entstanden war, vielleicht auch weil man an das Große glaubte, ist der Gemeinderat das große Risiko eingegangen und hat trotz knapper Geldmittel das Areal gekauft. Heute sind in diesem Firmengelände wieder 11 Firmen mit ca. 100 Beschäftigten tätig.
Es mag in ihren Ohren so klingen, als sei in der Gemeinde Schöllkrippen in Deutschland alles bestens. Nein! In unserem Hauptort gibt es viele leerstehende Gebäude, meist ehemalige Geschäftshäuser in der Ortsmitte. Wegen Überalterung der Bevölkerung droht der Ortskern zum Problemgebiet zu werden. Wir möchten unsere Ortsmitte beleben. So entstand in meinem Kopfe die Idee zum Bau eines Bürgerhauses. Es sollte direkt neben dem Rathaus auf dem Gelände einer Gewerbebrache stehen. Für kleinere kulturelle Ereignisse war es gedacht. Der Staat hatte uns einen Zuschuss in Höhe von 70% (!) in Aussicht gestellt. Ich war Feuer und Flamme! Die Bürger initiierten einen Bürgerentscheid. 37% gingen zur Wahl, 20, 7% waren gegen das Bürgerhaus. Ich habe die Sache bis heute noch nicht ganz verdaut. Aber das ist der Preis für eine mündige Bürgergesellschaft. Da muss auch einmal ein Bürgermeister verlieren können.
4. Fazit
Kürzlich war ich auf einer Veranstaltung der bayerischen Kommunen. Dort sprach auch ein berühmter deutscher Zukunftsforscher. Er nannte einige für ihn wesentliche Zukunftstrends. Er formulierte folgendes:
Geld wird in Zukunft nicht mehr die wichtigste Rolle spielen. Er sprach davon, dass "Viel haben" auch eine Last sein kann und konstatierte, dass es sich am Übergang von Mangel und Überfluss am besten lebe. Hier in der Ukraine füge ich als Deutscher auch gerne hinzu, dass ich sehr der Überzeugung bin, dass Europa nicht auf der Grundlage des Geldes (freier Geld- und Warenverkehr) wachsen wird, dazu braucht es schon auch andere Werte!
Was also wird in Zukunft eine Rolle spielen: Neben anderen Zukunftstrends (neue Wohnkonzepte, erweiterte Familienkonzepte,...) nannte er insbesondere auch das "nachbarschaftliche Mitmachbürgertum" , das sich sicherlich spontan einbringt, je nach Betroffenheit, auch nach Lust und Zeit, das aber in einer komplizierten Welt auch Sicherheit und Vertrauen gibt, das von einer neuen Anerkennungskultur getragen sein muss.
Er sprach von einer Renaissance des Genossenschaftswesens (einer für alle, alle für einen!) Hier werden sich einhundert Menschen zusammentun und ein Bürgerwindrad bauen, dort wird man gemeinschaftlich ein Mehrgenerationenhaus betreiben, wieder andere aktivieren gemeinsam ein Hilfsprojekt für Afrika. Hilfe und Engagement auf Gegenseitigkeit ist angesagt! Einerseits möchte ich mich einbringen, meine Kraft, meine Kompetenz, mein Engagement spüren, andererseits entsteht so um mich herum ein tragfähiges menschliches Netzwerk.
Zusammenfassend rief er uns Bürgermeistern zu, wenn wir erfolgreich sein wollten, dann liebe Bürgermeister gestalten sie die aktivierende Kommunalpolitik! Zu dieser aktivierenden Kommunalpolitik, die darüber hinaus auch transparent gestaltet sein muss, die von den Politikern ein wenig Mut und Vertrauen abverlangt und auf Seiten der Bürger auch Verantwortungsbewusstsein einfordert. Dazu möchte ich in Deutschland in meiner schönen Gemeinde Schöllkrippen noch einige Jahre beitragen.
Danke für ihre Aufmerksamkeit!